Ein Falschfahrer, der auf der deutschen Autobahn frontal gegen uns prallte lernt und einmal mehr schlechte Gefühle loszulassen und sich an dem zu orientieren was ist und was man hat. Es wäre besser wenn ... ist per sofort aus dem Vokabular gestrichen.
Der Lastwagen schwenkt auf die Überholspur aus ohne uns zu sehen. Dylan tritt auf die Bremse, drückt auf die Hupe. Jetzt erst merkt der Fahrer, dass wir neben ihm sind und schwenkt wieder zurück in seine Spur. Früher folgten bei so einem Ereignis nur eine genervtes „dieser ****“ und wir fuhren weiter. Heute schnellt der Puls hoch und der ganze Körper versetzt sich sofort in Alarmbereitschaft.
Wir haben seit letztem Januar, als ein Falschfahrer frontal gegen unseren Bus prallte, bereits wieder mehr als 30'000km zurückgelegt und haben den Schock im Kopf verdaut. Passiert aber auf der Strasse etwas Unvorhergesehenes, dann kommt vom Körper eine verstärkte Reaktion als zuvor. Ein Alarmzustand, den ich mir gerade eben wieder einmal mehr bei allen Verkehrsteilnehmern auch wünschte, denn als wir den Lastwagen schliesslich überholen, steckt der Fahrer gerade seelenruhig das Handy zurück in die Halterung neben dem Lenkrad.
Nur ein paar Stunden zuvor hörten wir auf einem Deutschen Radiosender einen Beitrag zum Thema Unfallprävention. Junge Erwachsene werden von Polizisten und Rettungssanitätern schonungslose mit den Folgen der Smartphone-Nutzung während dem Autofahren konfrontiert. Die Stimme der Rettungssanitäterin aus dem Radio bringt uns zurück auf die Autobahn voller Fahrzeugtrümmer. „Ich hielt Jens Arm und wusste, dass ich nichts mehr für ihn tun konnte. Er schaute mich an und sein Blick sagte mir, dass er wusste, dass er sterben wird.“ Mit Hühnerhaut auf den Armen fuhren wir wortlos weiter. Genauso.
Vor Gericht
Eine ähnliche Geschichte hatte Dylan ein paar Wochen zuvor vor dem Landesgericht in Aachen erzählen müssen. Wir hatten mehr als ein halbes Jahr nach dem Falschfahrer-Unfall als Zeugen vor Gericht aussagen müssen. Noch nie fiel es uns so schwer uns auf den Weg zu machen, wie an jenem Tag. Und obwohl wir dachten, das Erlebte gut verdaut und hinter uns gelassen zu haben, rissen die Narben im Gerichtssaal innert fünf Minuten wieder auf. Dylan, in dessen Arm damals ein Mensch gestorben ist, konnte plötzlich nicht mehr sprechen. Konnte die Bilder, die wir zuvor erfolgreich aus unserem Alltag verdrängt hatten, nur sehr schwer und unter Tränen in Worte fassen.
Es waren nicht nur die Erinnerungen an die schwerverletzten Menschen. Hinzu kam die abstruse Situation plötzlich zwischen den beiden Partien zu sitzen. Auf der einen Seite die Familien, die an jenem Tag Angehörige verloren hatte. Auf der anderen Seite der Unfallverursacher, dessen Augen ein ehrliches Schuldbewusstsein und gleichzeitig eine grosse Ratlosigkeit über sein eigenes Verhalten ausstrahlte. Er erinnert sich nicht mehr an den Tag des Unfalls. Weder daran, dass er hatte Selbstmord begehen wollen, noch an seinen Abschiedsbrief; was die Situation noch unsinniger und sehr wahrscheinlich für die Trauernden noch schwieriger macht.
Was ist Gerechtigkeit?
Da sitzt man dann da, zwischen all dieser Trauer und Fassungslosigkeit und fragt sich: Was ist Gerechtigkeit? Es ist absolut ungerecht, dass zwei Menschen tot sind, weil ein Dritter an jenem 21. Januar keine Lebenslust mehr empfand. Aber das Unrecht, es ist geschehen und was auch immer das Gericht entscheidet: Die betroffenen Familien müssen trotzdem mit der Tatsache weiterleben, dass ihre Eltern nicht mehr am Leben sind. Hilft da ein Urteil eines Richters, hilft es zu wissen, dass der Täter dafür büsst? Vielleicht.
Wir für uns kamen bereits vor der Gerichtsverhandlung zum Schluss, dass der einzige Weg damit umzugehen das Verzeihen ist. Denn was uns bleibt ist die Zukunft und da lebt es sich wesentlich besser damit, jemandem zu vergeben, als jeden Tag mit griesgrämigen „was wäre wenn“ Gedanken in die Vergangenheit zu reisen. Würden wir das gleiche sagen, wenn einer von uns den Unfall nicht überlebt hätte? Wir hoffen es. Denn für uns beide ist das Leben ein Vorwärtsschauen und vorwärtsgehen und jeder neue Tag eine Chance von vorne anzufangen. So hatte Dylan im Gerichtssaal dann doch noch die Geistesgegenwart, die Entschuldigung des Täters nicht nur anzunehmen, sondern ihm auch zu wünschen, dass er den Weg zurück ins Leben wiederfindet.