Nach zweieinhalb Wochen auf der von Martina gegründeten Tagesstätte für Kinder, die aus ärmsten Verhältnissen stammen, geht es mit dem Bus nun wieder gegen Westen. Die Gedanken sind aber noch in Ulaanbaatar.
Es ist 2 Uhr 37. Meine Blase hat mich aus einem unruhigen Schlaf geweckt. Ich ziehe mir was über, öffne die Türe und trete in die Dunkelheit hinaus. Wow! Ich drehe mich nochmals um, taste nach meiner Brille und bleibe regungslos unter dem Sternenhimmel stehen. Wie ein eingefrorenes Feuerwerk schwebt die Milchstrasse glitzernd über unserem Bus. Nachdem wir mehr als zwei Wochen unmittelbar um oder in Ulaanbaatar campiert hatten, bringt mich der funkelnde Sternenhimmel und die tiefe Dunkelheit der Nacht völlig aus der Fassung. Kein Licht ist zu sehen. Nirgends. Wir sind bloss knapp 80 km von der mongolischen Hauptstadt, die mittlerweile 1.5 Millionen Einwohner zählt, entfernt. Aber sobald Ulaanbaatar im Rückspiegel verschwand, machten sich auch die Lichtverschmutzung auf und davon.
Alkohol und Gewalt
Ich sauge die Ruhe auf, während in meinem Kopf die Eindrücke der letzten Wochen durch die Gehirnwindungen flippen. Obwohl ich die problematischen Familiengeschichten der Kinder, die in der Bayasgalant Tagesstätte betreut werden, seit 15 Jahre kenne, reagiere ich immer noch emotional darauf. Da ist der alkoholabhängige Vater, der im Suff seine Tochter mit einem Messer angriff. Wir besuchten Onkel und Grossmutter der Familie und stellten deren Dilemma fest: Der einzige, der eine Arbeit hat, ist eben dieser Mann, der eigentlich in den Knast gehört. Dann erfahren wir von einer Mutter, die mit einem neuen Mann verschwand und ihre drei Kinder vor Jahren ihrer eigenen Mutter überliess. Während wir in der Jurte der Grossmutter sassen, in der es ein Bett, ein Ofen und ein paar wenige andere wacklige Möbel hat, erzählte sie uns unter Tränen, dass sie nicht wisse was mit ihren Grosskindern passiert, falls sie stirbt. Die Frau ist erst knapp über 60, sieht aber aus wie weit über 70. Das harte Leben hat tiefe Furchen in ihr Gesicht gezeichnet. Sie hinkt als sie uns zum Tor des Grundstückes begleitet, auf welchem sie jemand gratis wohnen lässt. Das gelähmte Bein ist die Folge eines Herzinfarktes. Ihre dürre Hand schüttelt meine dennoch kräftig, als sie sich verabschiedet und bedankt. Es sind auch die traurigen Augen von Degi, die mich hier mitten unter dem Sternenhimmel beschäftigen. Ein Jugendlicher, der plötzlich durch aggressives Verhalten auffällt. Später erfuhren wir, dass sein Vater ihn neuerdings verprügelt und die beiden seit Monaten kein Wort mehr miteinander sprechen. Und es ist der schüchterne kleine Junge mit dem schmutzigen Gipsarm, dessen Mutter gestorben ist und der seither vom Vater völlig vernachlässigt wird, der ebenfalls in meinem Kopf herumschwirrt. Oft sind uns als Organisation die Hände gebunden, zum Glück aber nicht immer.
Veränderung ist möglich
Hinter allen 175 Kinder, die unser Team täglich betreut, stehen schwierige Schicksale und ich bin froh nehmen sich unsere Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen und Lehrerinnen diesen Kindern an. Die Bayasgalant Tagestätte, bietet den Kindern, die in Armut aufwachsen nämlich nicht nur Essen und Schulbildung, sondern zieht auch die Familiensituation in Betracht und versuch gemeinsam mit den Eltern etwas zu verändern. So geben mir die Besuche in den Armenvierteln Ulaanbaatars auch immer sehr viel Energie. Weil ich Uanzezeg treffe, die wieder lacht wie ein Sonnenaufgang. Dem zerebral gelähmten Mädchen geht es viel besser, seit die Familie in ein kleines Haus auf unserem Grundstück ziehen konnte und sie im Winter nicht mehr dermassen friert. Da ist Battur, der trotz alkoholabhängiger Eltern erfolgreich studiert und letzte Woche im Jugendrat der UNO an der "Asien Ministerial Conference on Desaster Risk Reduction" teilgenommen hat. Jeden Morgen begrüsste mich Davaachuu lachend, der dreifache Vater, der Dank Gesprächen mit unserer Psychologin aufgehört hat zu trinken und bei uns eine Arbeitsstelle als Hauswart erhalten hat. Oder Otgon Bayar, ein Junge der früher kaum sprach und sich völlig in sich zurückzog, der jetzt an der Hand der Sozialarbeiterin auf einem Bein über das Spielfeld hüpft und laut über sich selbst lacht, wenn seine Füsse nicht das tun, was das Hirn ihnen befielt. Es sind diese Gedanken, und das Wissen, dass sich der Alltag vieler Kinder zum Positiven verändert hat, die mich nach meiner Sterngucker-Pause wieder schlafen lassen. Ein Schlaf, den ich nötig habe, denn vor uns liegt eine ebenso intensive Woche: In vier Tagen müssen wir die 1800km bis zur russischen Grenze zurücklegen. Durch eine Landschaft, die in allen Farbtönen leuchtet und dann wiederum verblasst, wenn wir die Ausläufer der Gobi durchqueren, wo es wie an so vielen anderen Orten auch, keinen Asphalt hat.
Mehr über Bayasgalant, Kinderhilfe Mongolei erfahrt ihr auf deren Website: www.bayasgalant.ch
Der Verein betreibt die Tagesstätte einzig durch Spenden. Uns freut es, wenn Ihr etwas dazu beitragt. Danke.