Warum spielen wir Menschen Lotto und hoffen somit darauf, dass sich von aussen etwas verändert, anstatt die Veränderung selbst anzugehen? Eine Beobachtung und ein Weihnachtswunsch.
Deutschland - Ich stehen in einem Bahnhofskiosk und warten bis ich an der Reihe bin. Ich muss ein Päckchen verschicken und in Deutschland findet man DHL Versandstationen häufig am Kiosk. Dieses Exemplar hier, am Bahnhof einer kleinen Ortschaft gelegen, ist an dem nebligen kalt-feuchten Samstagvormittag richtig voll. Vor mir in der Schlange stehen meist ältere Männer und Frauen, sie kaufen auf den ersten Blick Zeitungen und Zeitschriften. Der zweite Blick verrät noch was anderes: Ausschliesslich jede und jeder hält einen Lottoschein in der Hand.
Erneut schüttelt die Verkäuferin den Kopf und sagt „Leider nichts!“, was den Mann nicht davon abhält ihr einen neu ausgefüllten Schein unter die Nase zu halten. „Vielleicht klappt es ja nächste Woche!“ Die Kioskfrau antwortet prompt: „Viel Glück Herr Meister! Aber wissen Sie, das wünsche ich jedem!“ Beide lachen. Aber nur er weiss, wie viel Geld er bereits verspielt hat. Wird Herr Meister jemals gewinnen?
Wir komischen Menschen
Will man den Jackpot, also sechs richtige Zahlen, dann liegt die Wahrscheinlichkeit in Deutschland laut der Deutschen Lottostiftung bei 1 zu 15 Millionen. Will man auch die Superzahl dazu richtig erraten, so steigen die (Un)Wahrscheinlichkeit hoch auf 1 zu 140 Millionen. Mir fällt beim Beobachten der Szene noch was anderes auf: Es sind nicht nur die Handgriffe der Verkäuferin, welche routiniert die ausgefüllten Lottoscheine einliest. Nein, sie kennt ihre Kunden auch mit Namen, einen nach dem anderen. Stammkunden im Lotto-Business? Während mein Blick der Schlange entlang wandert, frage ich mich, warum wir Menschen an das Glück vom grossen Gewinn, der so unglaublich selten vorkommt, trotzdem Woche für Woche glauben? Zählt man noch hinzu, wie viele einstige Lottomillionäre nicht mit ihrem Gewinn umgehen können und am Ende hoch verschuldet dastehen, wird das Ganze noch fraglicher. Mein Gedankengang wird durchs nächste Gespräch unterbrochen. Der etwas jüngere Mann, der nun am Tresen steht, legt noch ein paar Schokoriegel auf seine Magazine und fragt, nachdem sein Lottoschein eingelesen ist und er nicht gewonnen hat, nach Zigaretten. Die Verkäuferin dreht sich um und zieht eine Packung aus dem Regal, scannt sie ein. 6 Euro 70 leuchtet der Preis hellgrün auf dem Display der Kasse. Auf allen Schachteln hinter der Verkäuferin im Regal prangen unschöne Bilder von zerstörten Organen und ausgemergelten, lungenkranken Menschen. Über dem Regal zieht sich ein Werbespruch für E-Zigaretten über die ganze Breite hin. Gesünder soll es sein, als das herkömmliche Rauchen oder so was ähnlich Verlockendes steht da. „So en Seich!“, sage ich leise zu mir selbst und wieder streift mich der Gedanke, wie komisch wir Menschen doch sind. Ich beginne gedankenversunken am Ständer mit Magneten zu drehen. Darauf sind glatte Sprüche zu finden. So wie der hier: „Mein Kontostand und das Datenvolumen haben sich zusammengesetzt und den Monat für beendet erklärt“ Oder „Ich sage es jetzt mal so euphorisch wie möglich: Montag“ Wir Menschen sind definitiv komisch.
Positive Pessimisten
„Frau Wagner! Wie geht es Ihnen heute?“
„Ach, wie es einem halt so geht in dieser Kälte.“
„Na dann lass uns schauen, ob Sie heute gewonnen haben, dann fliegen Sie nächste Woche in die Wärme!“
„Ich gewinne ja sowieso nie“, sagt die alte Frau mürrisch, reicht aber trotzdem einen neuen Lottoschein über die Theke. Pessimismus in seiner positivsten Form.
Mein Blick schweift weiter durch den Kiosk. Natürlich gibt es eine Wand voller Magazine und Zeitungen, aber drumherum auch allerhand unnötiger Nippes. Kitschige Schlüsselanhänger, komische Mitbringsel aus Porzellan, künstliche Pflanzengestecke, Plüschtiere, die Herzen zwischen den Pfoten halten. „I love you!“, sagen sie und schauen mich treuherzig an. Daneben stehen Tassen mit ebenso komischen Sprüchen, wie auf den Magneten und noch etwas weiter Panini Sammelbände und Bildchen vom Disneystreifen „Die Eiskönigin“. Es kommt mir in dem Moment so vor, als würden damit schon die Kinder zum Lottospielen erzogen.
Von Träumen und Realität
„Warum spielen wir Menschen eigentlich Lotto?“, frage ich Dylan, nachdem ich mich wieder neben ihn auf den Beifahrersitz setze.
„Weil wir Freude daran haben uns vorzustellen, was wäre wenn?“
Vorfreude ist die schönste Freude, sagt man. Aber ist es wirklich Vorfreude, wenn man so kleine Chancen hat, auch tatsächlich zu gewinnen? Dies bringt mich zum nächsten Sprichwort: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
„Sich auszumalen, was man alles kaufen würde. Den Ferrari, den man fahren würde, wenn man Geld hätte, wie man es allen andere zeigen würde … das macht vielleicht den Reiz aus“, fährt Dylan fort.
„Aber mit dem Geld, welches man Woche für Woche fürs Lotto ausgibt, könnte man doch auch einfach einen Ferrari für einen Tag mieten und das Gefühl erleben“, bleibe ich realistisch.
„Aber dann ist der Traum ja weg!“, entgegnet Dylan.
„Aber er ist dafür gelebt - zumindest für einen Tag.“
„Es ist doch so schön auf dem Sofa zu sitzen und sich zu überlegen was wäre wenn! In diese Fantasiewelt einzutauchen, sich vorzustellen man wäre wer, ohne wirklich was tun zu müssen. Gehen wir nicht deswegen auch ins Kino? Wollen wir nicht oft einfach Geschichten hören, um uns vorzustellen wir selbst wären die Heldinnen?“
Vielleicht. Vielleicht spielt man tatsächlich Lotto, damit man seinen Traum weiter träumen kann, ohne mehr zu tun, als wöchentlich seine Glückszahlen auszuwählen und zehn Euro im Kiosk zurückzulassen. Kein grosses Risiko, aber imaginär grosse Chancen.
„Träume zu haben, bedeutet doch, dass du lebst, es erfüllt dich, wenn du daran denkst. Ohne Träume leben wir nicht lange. Haben wir keine Ziele, keine Hoffnung, so leben wir vor uns hin ohne Lebensfreude“, ergänzt Dylan seinen Gedankengang. „Wir beide wollen ein erreichbares Ziel, wir haben Freude daran, darauf hinzuarbeiten und tatsächlich etwas zu tun. Aber nicht alle Menschen sind so. Einige wollen einfach nur träumen könne, ohne wirklich etwas zu tun.“
„Vielleicht hast du recht. Vielleicht wählen einige einfach lieber den einfachen Weg und träumen, wie früher die Kinder, die sich was vom Christkind gewünscht haben, davon, dass sie eines Morgens aufwachen und ihr Traum Realität wird.“
Wir versinken in Schweigen, während wir mittlerweile auf der Autobahn in Richtung Süden fahren. Irgendwann früher war ich eine davon. Ich habe auch jeweils im Dezember das Millionenlos gekauft und gehofft zu gewinnen. Heute wünsche ich mir vom Christkind, das im neuen Jahr mehr Menschen ihre Träume tatsächlich aktiv angehen, anstatt weiterhin Lotto zu spielen. Weil sie so Woche für Woche die Chance vergeben tatsächlich etwas zu gewinnen.