Der Aufwand für verantwortungsvolles Freistehen sollte keinem, der es tut, zu gross sein. Denn jede und jeder trägt nicht nur die Verantwortung für sich selbst, sondern für die gesamten Freisteh-Community und, noch fast wichtiger: auch für den Ort und die Menschen, die den Ort, wo man steht, als ihre Heimat betrachten.
➳ Wir fahren über den Chasseral und da stehen plötzlich überall am Strassenrand grosse Steinbrocken. Sie sind so gross, dass es offensichtlich wird: Hier darf nicht mehr geparkt werden. Noch letzten Herbst hatten wir hier mal eine Nacht verbracht. Während wir weiter ins Tal hinunter, in Richtung St. Immer fahren, schaue ich in der Park4Night App nach und finde prompt, da wo jetzt die Steine stehen, einen Eintrag. Zudem ein Bild auf dem ungefähr vier Camper zu sehen sind, einer davon mit aufgebautem Vorzelt. Ich scrolle weiter und lese in den Kommentaren: „Besser dort übernachten, als hinten beim Hotel, wo der Wirt Stress macht und Geld aus den Campern herausholen will.“ Ui. Mir stellt es noch ein paar Nackenhaare mehr auf. Beim Hotel Chasseral steht seit jeher ein Campingverbot, was völlig nachvollziehbar ist. Denn als Hotelbetreiber möchte ich auch, dass die Leute bei mir ein Zimmer mieten, anstatt auf dem Parkplatz draussen zu nächtigen und allenfalls noch meine Toilette zu benutzen. Es ist schon mehr als grosszügig, dass man tagsüber gratis dort stehen kann. Wer dann schreibt der Wirt „mache Stress“, hat ehrlich gesagt den Stresse verdient. Zum aufgebauten Vorzelt und den vielen Vans an einem Ort gibt es nur eines zu sagen: unsensibel.
JURISTISCHE GRAUZONE
Wir leben seit April 2016 Vollzeit im Bus und campen seit vier Jahren die allermeiste Zeit frei. Dieses Jahr sicherlich, wie alle, öfters in der Schweiz, als anderswo. Trotzdem finden wir immer noch Ecken und Plätze, wo sich niemand stört und noch viel wichtiger: Wo wir niemanden stören! Denn wildes Stehen und übernachten mit dem Bus ist vielerorts verboten, aber dennoch eine juristische Grauzone. Wir, die dies tun, sind also geduldet und daher sollten wir uns diese Privileg immer bewusst sein und uns entsprechend sensibel verhalten. Und ja: Je nach dem, auf wen man trifft (und wie man sich dann verhält), kann das Ganze mit einer Busse enden.
WIR SIND NUR ZU GAST
Für uns ist es wichtig, dass wir uns jederzeit bewusst sind, dass wir Gäste sind, auch in der Schweiz, und wir uns uns entsprechend nett und zuvorkommend verhalten. Wir kaufen zudem wo möglich lokal auf Bauernhöfen und in kleinen Dorfläden und Bäckereien ein.
Liegt irgendwo Abfall rum, putzen wir den auf, bevor wir stehen bleiben. Denn alle, die Vorbeifahren, können den Müll mit uns assoziieren und das wollen wir nicht.
Freistehen (und Vanlife im Allgemeinen) hat so einiges mit Demut zu tun, im positiven Sinne verstanden. Wir nehmen die Gastfreundschaft, die wir geschenkt bekommen, voller Dankbarkeit an und geniessen es die Möglichkeit zu haben, so leben zu dürfen.
OHNE PANORAMA GEHT AUCH
Auch wenn wir alle auf den sozialen Medien gerne tolle Plätze zeigen: Zum Schlafen brauchen wir nicht wirklich eine schöne Aussicht. Natürlich ist es auch für uns ein Highlight morgens mit schönem Panorama aufzuwachen. Aber einmal mehr spielt das Mindset eine wichtige Rolle: Für uns ist mittlerweile jedes Erwachen im Van ein Highlight. Weil wir irgendwo in der Natur stehen, weil wir an jedem Platz irgendetwas Schönes entdecken können, weil wir die Vögel pfeifen hören, weil wir mit dem Partner neben uns aufwachen, weil ein neuer Tag voller Chancen und Möglichkeiten vor uns liegt. Hören wir draussen die Lastwagen brummen, lassen wir die Vorhänge einfach zu und wissen: Wir sind auf dem Weg dahin, wo es schöner ist.
NICHT AUFFALLEN
Wir handhaben es so, dass wir oft erst abends etwas später an den Platz fahren, den wir uns für die Nacht ausgesucht haben und je nach Ort oder Verkehrsaufkommen früh wieder weg sind. Wir hängen also selten den ganzen Tag an dem Ort rum, wo wir auch übernachten. Ausser wir kennen den Ort und wissen: Hier kommen höchstens Füchse und Hasen vorbei. Auch sehr selten stehen wir zwei Nächte hintereinander am gleichen Ort. Zudem suchen wir uns zum Frühstück öfters Mal einen anderen Ort aus, als für die Nacht. Neulich schliefen wir irgendwo in Jura und assen um halb acht am Ufer des Neuenburger Sees das Frühstück auf einem Parkplatz mit herrlicher Aussicht, wo aber übernachten ganz klar verboten ist. Unterwegs trafen wir auf Rehe und Füchse in unmittelbarer Nähe, das goldene Morgenlicht war wunderschön. Früh unterwegs zu sein, hat definitiv seinen Reiz.
Sich unauffällig und rücksichtsvoll zu Verhalten gehört zu unserem Alltag dazu und fühlt sich auch nicht komisch an oder so, als müssten wir uns verstecken. Auch hier ist das Ganze sehr stark eine Einstellungssache.
WIR TRAGEN DIE VERANTWORTUNG
Der Aufwand für verantwortungsvolles Freistehen sollte keinem, der es tut, zu gross sein. Denn jede und jeder trägt nicht nur die Verantwortung für sich selbst, sondern für die gesamten Freisteh-Community und, noch fast wichtiger: auch für den Ort und die Menschen, die den Ort, wo man steht, als ihre Heimat betrachten.
Daher teilen wir Plätze, die wir gefunden haben sehr selten mit jemandem und schon gar nicht online oder in Apps. Diese, wir fanden sie zu Beginn auch gut und hilfreich, erweisen uns mittlerweile allen einen Bärendienst. Ja, es ist praktisch und passt zur „ich-google-mir-eine-Lösung“ Gewohnheit, die wir alle uns in den letzten Jahren, ohne es zu merken, angeeignet haben. Aber wenn dann plötzlich jede Nacht oder jedes Wochenende am gleichen Ort Camper stehen und immer mal wieder Dreck (damit meine ich leider nicht nur Müll) liegen lassen, dann verstehe ich, dass die betroffenen Gemeinden Höhenbeschränkungen, Campingverbote und Steine am Wegesrand aufbauen.
KEINE VERSICHERUNG
Was man sich zudem auch sehr gut bewusst sein muss: Freistehen heisst auch grössere finanzielle Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Wird etwas gestohlen oder das Auto auf eine andere Weise beschädigt, übernehmen die Versicherung nichts. Wer auf einem Campingplatz steht, ist viel besser abgesichert. Da wir im Bus leben, haben wir für unsere Wertgegenstände eine Zusatzversicherung abgeschlossen, damit diese überall auf Diebstahl versichert sind, was sich für einen Urlaub oder Wochenende sehr wahrscheinlich nicht lohnt. Und für unsere Sicherheit schauen wir auf das Wetter und die Umgebung (Bäume, Flüsse, Steinschlag) und verlassen uns (vor allem wenn es um potentiell nicht so nette Mitmenschen geht) auf unsere Intuition: Fühlt sich einer von uns nicht sicher, suchen wir weiter, egal wie schön er auch ist oder wie müde wir sind.