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Was ist eigentlich los in Sri Lanka?

Seit wir im Februar 2022 zum letzten Mal in Dylans Heimat waren und bereits damals Stromausfälle, Inflation und zu wenig Treibstoff antrafen, hat sich die Lage für die Menschen in Sri Lanka von Woche zu Woche verschlimmert. Nebst Treibstoff und Strom fehlen immer wie mehr Lebensmittel und Medikamente. Das Land ist nun so bankrott, der Rupie so abgewertet, dass Importe fast nicht mehr möglich sind.

Fahrräder sind so beliebt geworden, dass die Preise für das Fortbewegungsmittel, welches einzig Muskelkraft benötigt, so angestiegen sind, dass Velos per Leasing-Verträgen gekauft werden müssen und Ersatzteile für Fahrräder nicht mehr zu bekommen sind. Die wenigen Züge und Busse, die noch fahren, sind maßlos überfüllt, so das Menschen zum Teil auf den Dächern mitfahren. Und es ist für Sri Lanker normal geworden zwei, drei oder sogar fünf Tage in der Schlange an der Tankstelle anzustehen. Es sind bereits mehrere Menschen in den Warteschlangen vor Erschöpfung verstorben. Andere wurden beim Aufbegehren brutal von Polizisten zusammengeschlagen.

Zum Teil schaffen es Ärztinnen und Pflegepersonal nicht zur Arbeit, weil sie keine Transportmöglichkeiten haben. Das bereits schwache Gesundheitssystem wird noch schwächer, simple, weil die Menschen, die dort Arbeiten den Arbeitsweg nicht bewältigen können. Zudem fehlt es mittlerweile an sehr vielen Medikamenten und mehr und mehr Ambulanzen bleiben stehen, weil auch den Spitälern der Treibstoff ausgeht. Ärzte rufen zum Teil privat zu Spendenaufrufen auf, damit in ihren Einrichtungen noch irgendetwas geht.

 

Die Schulen sind nach zwei Jahren Corona wieder geschlossen. Diesmal, weil der Transport der Schülerinnen und Schüler nicht mehr gewährleistet werden kann. Die letzten Prüfungen vor ein paar Wochen fielen aus, weil der Inselstaat nicht einmal mehr Geld für den Import von Papier hat. 

Nach massiven Fehlentscheidungen der Regierung fehlt es zudem in Sri Lanka ausgerechnete in diesem Jahr an lokal produzierten Lebensmitteln. Von einem Tag auf den nächsten hatte der Präsident letztes Jahr den Import von Dünger verboten. Biologische Landwirtschaft wäre ja an und für sich erstrebenswert, aber ist nie und nimmer über Nacht umsetzbar. Also kommt es genau jetzt noch dazu, dass zum Teil kein Reis mehr in den Regalen der Läden stehen, weil es auf Grund der Entscheidung unnötige Ernteausfälle gegeneben hat.

Die Fischer können jetzt, wo es umso wichtiger wäre, nicht mehr zum Fischen rausfahren, weil auch sie kein Treibstoff mehr für ihre Boote haben. Und da, wo noch Gemüse produziert werden kann, kann es aus demselben Grund nicht in andere Landesteile transportiert werden.

 

Die weltweite Teuerung von Lebensmittel durch den sinnlosen Krieg in der Ukraine tut ihr übrigens dazu. Nahrungsmittel kosten in Sri Lanka 80% mehr als noch vor einem Jahr. Für viele Familien bedeutet dies schlicht, dass pro Mahlzeit weniger auf den Tisch kommt. Oder sogar eine Mahlzeit weniger gegessen wird als zuvor.

Die Menschen sind zu Recht verärgert über das jahrelange Missmanagement ihres Landes durch die Politiker. Über all die Präsidenten und Minister, die vor allem in ihre Taschen gewirtschaftet haben und sich wenig bis nicht um die Entwicklung der Wirtschaft und um die Menschen gekümmert haben. Zudem hing seit 2005 fast die gesamte Politik von einer Familie ab. Seit Mahinda Rajapaksa damals zum Präsident gewählt wurde, setzte sich die Familie wie ein Parasit überall fest.

Der jetzige Präsident (und Bruder von Mahinda) Gotabaya wurde damals Verteidigungsminister, ein weiterer Bruder Basil, Präsidentenberater, Chamal wurde Parlamentschef. Die Rajapaksas und ihre Vettern und Cousins holten sich neben Parlamentssitzen diverse Minister- oder Vizeministerämter (Finanz, Wirtschaft, Justiz, Verteidigung, Wasser, Landwirtschaft, Häfen, Luftfahrt, Straßen, Fischerei, Arbeit, Sport). Zu einem bestimmten Zeitpunkt sollen die Rajapaksas in ihren Ministerien rund 70 Prozent des gesamten Budgets kontrolliert haben. Daneben sicherten sie sich zahlreiche andere wichtige Chefposten in staatlichen Konzernen wie der Fluglinie, dem Telekomunternehmen, dem Flughafenbetreiber, der Hafenbehörde, einem TV-Sender, einem Krankenhaus, und in staatsnahe Unternehmen aus den Bereichen Logistik, Pharma, Gesundheitswesen, Fischerei. In all den Jahren hat die Familie (und die Verbündeten) Millionen für sich abgezweigt und das Geld außerhalb des Landes gebracht - Stichwort Pandora Papers.

 

Waren die Menschen in Sri Lanka zuvor Jahre lange zu beschäftigt damit zu überleben, um sich um die Politik zu kümmern - „Es war ja schon immer so, was solls?“ – hat sich jetzt der Alltag dermaßen verschlechtert, dass viele an den Punkt gekommen sind, wo sie spüren, dass bald nichts mehr zum Überleben da sein wird und ihnen nichts anderes übrig bleibt, als der Kampf, die Revolution auf der Straße. Ein Ärger, eine Energie wurde freigesetzt, die schon längst überfällig war. Vielleicht eine Chance auf echte Veränderung. Vor allem, wenn wir beobachten, mit wie viel Nachsicht demonstriert wurde und wird. Denn fast immer und überall lautetet das Credo: Wir demonstrieren friedlich!


Nach monatelangen, größtenteils friedlichen Protesten kam es am Samstag zur wohl größten Demonstration, die das Land je gesehen hatte. In überfüllten Bussen, mit Fahrrädern und zum Teil zu Fuß strömten die Menschen zu Tausenden nach Colombo. Singhalesen, Tamilen, Buddhisten, Christen, Muslims, alte & junge, Familien mit Kindern genau gleich wie Großeltern: Alle wollen sie gemeinsam eine Veränderung erreichen. Sie drangen bis in den Präsidentenpalast ein und sagen, sie bleiben dort, bis der Rücktritt von Gotabaya Rajapaksa Wirklichkeit ist. Dieser hat am späten Samstagabend endlich angekündigt, er sei bereit, auf kommenden Mittwoch zurückzutreten.

 

Als wir am Sonntagmorgen davon erfahren und durch Dylans Social Media scrollen, sind wir beeindruckt. Tief beeindruckt von den Demonstrierenden und ihrem Verhalten. Den einfachen Menschen, die zeigen, dass sie zu einer Veränderung bereit sind und sie mehr Verstand haben als die geldgierige Elite.

Während wir in den deutschsprachigen Medien lesen, der Regierungspalast wurde „erstürmt“ und der Präsident sei nach den „schlimmsten Ausschreitungen“ auf "der Flucht" und in der Tagesschau hören, dass „die Bilder des brennenden Privathauses des Premiers in Colombo nicht erhoffen lassen, dass sich die Menschenmassen so schnell beruhigen werden“, sehen wir dank Dylans Wurzeln und Vernetzung ein total anderes Bild. Eines, das uns beeindruckt und berührt.

 

Ja, die Menschen stürmen in den Regierungspalast, aber es geht sehr viel friedlicher zu und her, als die Medien erahnen lassen. Einer hält in einem oft geteilten Video eine Ansprache und sagt: „Macht bitte nichts kaputt, nehmt nichts mit! Es ist unser aller Besitz und unser aller historisches Gut hier. Es ist unsere Geschichte!“ Andere lassen sich lachend auf dem Präsidentenstuhl fotografieren, einer nach dem anderen und tun so, als würden sie aus seiner Tasse Tee trinken. Sie fallen ins Bett des Präsidenten für weitere Selfies, baden ausgelassen im Pool und ganze Familien lassen sich auf den edlen Sofas fotografieren. In einem Sitzungszimmer halten einige eine humorvolle Pressekonferenz ab, beziehen Kinder mit ein und alle lachen miteinander. Die Witze sind offenbar so lustig, dass sogar ein anwesender Polizist mit lacht. Aus dem Herzen mit lacht.

 

Diese Menschen, die so wütend sein könnten, aber so unschuldig sich selbst sind, berühren uns zutiefst. Sie sitzen da, wo über Jahre gegen ihre Zukunft gearbeitet wurde, wo die Menschen lebten, die das Land wortwörtlich ausgenommen haben und sie lachen, haben Spass und geniessen den Moment. Unschuldig und so fröhlich wie wir (und vor allem Dylan), die Sri Lanker zum größten Teil kennen. Nach Wochen voller realer Existenzangst, wo jede und jeder ihre Wut verstehen würde, sitzen sie friedlich in all den Räumen des Präsidentenpalastes und im Garten zusammen und amüsieren sich, anstatt zu randalieren.

Hier bei uns musst du an einem Fussballmatch damit rechnen, mit deinen Kindern in eine Gruppe randalierende Hooligans zu geraten, geht es mir durch den Kopf. Während der größten Demonstration in Sri Lanka, wo es um die Zukunft des Landes geht, wo wir es verstehen könnten, dass randaliert wird, bringen die Familien ihre Kinder mit, weil sie über Monate hinweg gesehen haben, dass es den Demonstrierenden, dass es ihnen allen um echten Wandel geht. Dass man sich gegenseitig umeinander kümmert und gemeinsam viel mehr erreichen kann.

Mit Tränen in den Augen scrollen wir weiter. Wir finden Videos von Leuten, die Bilder, die von den Wänden des Palastes gefallen sind, wieder aufheben und sicher auf einen Tisch stapeln, andere, die den Schmutz und Abfall, der liegen bleibt zusammen kehren und ein Video einer langen Menschenschlange, die eine im Protestcamp entstandene (von Privatleuten Buch für Buch gespendete) „Nationalbibliothek“ ins Foyer des Präsidentenpalastes transportiert. Ein symbolischer Akt, der Wissen/Bildung dahin zurückbringt, wo es in den letzten Jahren offensichtlich gefehlt hat. Wir sehen Bilder von christlichen Nonnen, buddhistischen Mönchen und Imams, die gemeinsam vor dem Palast zusammenstehen, was genauso viel Symbolkraft für ein Land wie Sri Lanka hat, wo das Zusammenleben der unterschiedlichen Ethnien nicht nimmer einfach war und sein wird. Videos, die zeigen, wie Polizisten und Militärs, die sich den Menschenmassen ergeben, auf ihrem Rückzug freudig und freundlich bejubelt werden, obwohl bis zu jenem Tag wohl jeder der Demonstrierenden direkt oder indirekt prügelnden Polizisten und Militärs erlebt hat, komplettieren das Bild. Das Credo der Demonstranten war über all die letzten Wochen keine Gewalt anzuwenden und es ist in den allermeisten Fällen bei dem geblieben.

„Aber da waren doch brennende Busse, brennende Häuser und gewalttätige Auseinandersetzungen in den letzten Wochen?“, mögt ihr jetzt fragen. „So stand es doch in der Zeitung.“

Ja, aber die waren zum grössten Teil von der Seite des Präsidenten orchestriert. Es wurden in der Vergangenheit Tausenden Anhänger seiner Partei an die friedlichen Proteste gekarrt, um Gewalt anzustacheln. Unser sehr besonnene Buchhalter-Cousin war an jenem Tag mit vor Ort und sah was passierte.

Der eine brennende Bus, der überall zu sehen war, wurde laut mehreren Quellen von der Polizei angezündet, um die Schuld auf die Demonstrierenden zu schieben und Gründe zu haben die Sozialen Netzwerke einmal mehr zu sperren oder eine weitere Ausgangssperre zu verhängen.

So soll es auch mit dem an diesem Wochenende brennenden Haus des Premiers passierst sein, hören wir von diversen lokalen Kanälen/ Medien. „Denn wer bitte von uns hat in diesem Land noch Benzin, um ein Haus in Flammen zu stecken, wenn nicht dir Regierung selbst?“, sagt ein junger Demonstrant, der selbst vor Ort war in seine Handykamera.

Wir wünschen uns für die Menschen in Sri Lanka nichts mehr, als das der positive Spirit, der wahre Wunsch nach Veränderung, das Aufeinanderachten bleibt und die Demonstration zu einer wahren Revolution wird. Denn das letzte Wochenende war erst der Anfang von einem langen Weg, der dem Land und seinen wunderbaren Menschen noch bevorsteht.

Und für uns wünschen wir, dass wir uns das nächste Mal, wenn wir über eine Krise aus einem fernen Land, zu dem wir keinen Bezug haben und dessen Landessprache wir nicht sprechen, in den Medien lesen, dass wir uns daran erinnern, dass es immer noch eine andere Sicht auf die Realität gibt, als diejenige, von der wir hier hören.

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